IN ZEITEN WIE DIESEN
IN ZEITEN WIE DIESEN | Regina Seidel
Die Angst geht um. Noch ist sie nicht allgegenwärtig und manifest. Leise und manchmal unmerklich schleicht sie sich in unser Leben, versteckt sich hinter Begriffen wie Befürchtung, Beklommenheit oder Besorgnis.
Während bei früheren Treffen mit Freund*innen der Stress im Job oder im ungewohnten Rentner*innendasein, die kleinen und großen Herausforderungen mit den Kindern und Enkelkindern oder Beziehungsprobleme im Vordergrund standen, und man sich mit persönlichen Themen auf den neuesten Stand brachte, landet heutzutage jedes Gespräch über kurz oder lang bei den gesellschaftlichen. Meist eher über kurz. Der Krieg in der Ukraine (zu nah!), die Corona-Pandemie (immer noch nicht ausgestanden!), die Klimakrise (dringlicher denn je!). Wobei der Krieg, der uns so nah gekommen ist, und dessen Auswirkungen wir täglich spüren, ob wir wollen oder nicht, eindeutig vorherrschend ist. Gas- und Strompreise explodieren, die Spritpreise steigen ins Utopische, Lebensmittel werden von Tag zu Tag teurer. Die, die ohnehin schon rechnen mussten, wissen inzwischen nicht mehr, worauf sie noch verzichten sollen, um über die Runden zu kommen.
Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Was unsere Generation besonders umtreibt, ist die Angst vor dem Krieg. Was, wenn Putin sich so bedroht fühlt, dass er einen Atomschlag nicht nur androht, sondern wahrmacht? Viele von uns haben sich intensiv mit unserer Geschichte und dem Leben unserer Eltern auseinandergesetzt. Auch wenn wir nur noch die Nachwirkungen des zweiten Weltkriegs zu spüren bekommen haben, sitzt uns das Erleben unserer Eltern in den Knochen und Genen. Wir tragen ihre Ängste, ihre Traumata mit uns herum und „wissen“ um die Schrecknisse.
Und nun sitzen wir da und wissen nicht, was wir tun sollen. Wie mit den Ängsten umgehen, die sich in unser Leben drängen und von denen wir noch nicht einmal wissen, ob sie berechtigt sind. Was setzen wir entgegen? Wie schützen wir uns davor, uns in unseren Sorgen zu verlieren und dadurch handlungsunfähig zu werden, uns ausgeliefert zu fühlen? Funktionieren die Strategien, die wir uns im Laufe unseres Lebens angeeignet haben, um mit dessen Zumutungen fertigzuwerden? Und – ist es angesichts der Katastrophen, die uns umzingeln, nicht geradezu lächerlich, sich mit Yoga und Meditation beruhigen zu wollen, Sport zu treiben, Strümpfe zu stricken oder im Wald zu baden? Dürfen wir uns den täglichen Nachrichten verweigern und stattdessen ein seichtes Filmchen gucken?
Wir sind eine politische Generation, aufgewachsen und vielfach beteiligt an Studentenunruhen, Demonstrationen gegen Atomkraft und Aufrüstung. Plötzlich stellen wir auch noch fest, dass einiges, wofür wir auf die Straße gegangen sind, ins Wanken gerät. Frieden schaffen ohne Waffen! Lange sah es doch so aus, als könne es gelingen, zumindest hier bei uns. Und jetzt nicken wir, wenn auch zähneknirschend, wenn es darum geht, die Ukraine bei ihrem Kampf gegen Putin mit schwerem Gerät zu unterstützen. Oft kommen wir uns vor wie Verräter*innen an unseren eigenen Idealen, wissen aber nicht, wie wir das Problem anders lösen können. Für viele von uns bedeutet das eine zusätzliche heftige Erschütterung.
Insofern halte ich es für legitim, sich zeitweise auszuklinken, sich der verstörenden Informations- und Bilderflut zu verweigern und sich Dingen zuzuwenden, die uns trösten, ablenken und letztendlich wieder Kraft geben. Schon allein, um die Angst in Zaum zu halten und ihr etwas entgegensetzen zu können, aber auch um weiter nach friedlichen Lösungen zu suchen.
MÄRZ 2022