PORTRAIT BIANCA AUSTERMANN
EIN PORTRAIT VON THOMAS AVENHAUS
Unwirkliche Fabelwesen gehen durch Münster. Seltsam, schräg, unruhig bewegen sie sich wie in Trance. Dazu spielt ein Akkordeon. Menschen bleiben staunend stehen und folgen dann den Wesen durch die Stadt. Was geschieht hier?
Das Stück „Anguana“ hat ganz normale Münsteraner Bürgerinnen in jene Fabelwesen verwandelt. Es sind Frauen 60+, die man im Alltag überall in der Stadt sieht, besser: übersieht. Ihre Verwandlung hat eine Geschichte, die viel mit dem Sichtbar-Werden, mit neuen Rollen, mit der Erweiterung der eigenen Grenzen zu tun hat. Und viel mit Bianca Austermann.
Bianca arbeitet als Sozialarbeiterin und Theaterpädagogin. Mit etwa 20 hatte Bianca Austermann ein Aha-Erlebnis, das sie nachhaltig geprägt hat: „Auf einmal habe ich gemerkt, ich habe eine Stimme und ich kann gestalten“, sagt sie. Bianca wuchs in einem bildungsfernen Haushalt auf, die Eltern hatten keinen Bezug zu Kunst und Kultur. Dann, mit 20 hat Bianca das Theater entdeckt – vor allem: das Theater-Machen. „Mich hat die Magie des Theaters ergriffen, ich habe auf einmal meine Grenzen gespürt und konnte sie erweitern, wenn nicht gar überwinden“.
Sie hat ihre Selbstwirksamkeit gespürt, erst als Schauspielerin, dann als Regisseurin. Theater als Befreiung – auch vom vertrauten Ich, von alten Bildern, Strukturen und Rollenmustern.
Vor einigen Jahren wurde Bianca vom Frauenbüro der Stadt Münster angesprochen, eine Gruppe von Frauen 60+ bei einer Theaterproduktion zu unterstützen. Die Frauen hatten als Laiengruppe Theatererfahrungen der klassischen Art: Sie suchten sich ein Stück aus, übernahmen Rollen, lernten Texte und führten dann auf. Oft im Rathaus Münster, in einem vertrauten Raum vor einem vertrauten Publikum.
Bianca löst bei den ersten Begegnungen große Irritationen aus. Sie sagt zu den Frauen: „Wir nehmen keinen festen Text. Wer seid ihr eigentlich, was wollt ihr erzählen?“ Sie übt mit den Frauen neue Techniken, zum Beispiel Grimassen schneiden. Sie nimmt körperliche Einschränkungen ernst und arbeitet damit. Alle sind befremdet, doch auch neugierig: auf sich selbst in unvertrautem Gebiet. Sie entwickeln gemeinsame Ideen. Bianca bringt das mythische Wesen Anguana ins Spiel: ein Geist aus der Natur. Die Frauen entwickeln, jede für sich und gemeinsam mit Bianca und einer Kostümbildnerin eigene Anguana-Charaktere. Bianca fragt sie: „Welches Element ist dir nah, wie bewegst du dich, was ist speziell an dir?“ Sie will die Frauen aus ihren Alltagsmustern lösen und in andere Wesen verwandeln. Dann gehen Bianca und die Frauen einen Schritt weiter: Sie werden nicht im Rathaus spielen, sondern im öffentlichen Raum, in der ganzen Stadt. Alle sollen sie sehen.
Das braucht Mut und bringt Herausforderungen: Sprechen funktioniert nicht, der Körper muss alles stumm ausdrücken. Bianca macht intensive Körperarbeit mit den Frauen, sie bekommen peu à peu mehr Bewusstsein für ihre Präsenz und werden dadurch immer präsenter. Dann kommt die Aufführung mit choreografierten Bewegungsabläufen, mit einer Akkordenspielerin, mit gemeinsamem Gehen durch die Stadt und intensivem stillen Innehalten. Die Frauen erleben sich in ihren Rollen und in den ausdrucksstarken Kostümen neu: Sie nehmen sich Raum, sie tun Dinge, die sie sonst nie tun würden, legen sich aufs Pflaster, umarmen Bäume. Sie haben einen anderen Kontakt zur Umwelt. Sowohl, was Münster und seine Straßen und Plätze angeht, als auch zu den staunenden Zuschauer*innen: Denn hier sind plötzlich keine älteren Frauen mehr, sondern jene eingangs beschriebenen fremden und faszinierenden Fabelwesen, die suchend und tastend eine neue Welt entdecken.
Bianca Austermann (51) ist Sozialarbeiterin und Theaterpädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.