DIE TRAUER GEHÖRT ZUM LEBEN
Geht der Spruch nicht anders? „Der Tod gehört zum Leben“? Gewiss, aber ich kann das einfach nicht mehr hören. Wer das sagt, will wohl einen taffen Eindruck machen. „Mich schreckt der Tod nicht.“ Wirklich? Ich finde den Tod schrecklich. Und darüber kann mich kein kluger Spruch hinwegtrösten. Wenn der Tod an mir vorübergeht, wenn mich der Atem des Todes streift, werde ich schreckensstarr. Denn es ist, als klopfe mir der Tod im Vorbeigehen auf die Schulter und flüstert: „DU bist noch nicht an der Reihe. Aber ich nehme Dir alles, was Du liebst.“
Vor kurzem besuchte ich eine Kollegin, deren Mann wenige Wochen zuvor gestorben ist. Sie öffnet mir die Tür und ich erschrecke: Leichenblass sieht sie aus, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. „Es ist, als hätte der Tod die Hälfte von mir mitgerissen“, sagt sie. Und das glaube ich ihr aufs Wort. Sie und ihr Mann haben viele Jahre lang eine Einheit gebildet. Diese Einheit ist nun zerstört und zurückgeblieben ist eine unvollständige Hälfte mit einem Riss, der unendlich schmerzt.
„Ich dachte, es bricht mir das Herz.“ Das ist mehr als eine Redensart. Es beschreibt ziemlich genau den körperlichen Schmerz, den ein Mensch empfinden kann, wenn ihm das Liebste entrissen wird. Und manch eine stirbt tatsächlich an gebrochenem Herzen. Der seelische Schmerz somatisiert sich im Körper. Die Trauer ist nicht nur eine seelische, sondern auch eine körperliche Empfindung.
Kann ein solcher Riss quer durch Leib und Seele überhaupt wieder heilen? Die Ärzte sprechen von „Anpassungsstörung“, wenn die Trauer nicht innerhalb einer gewissen Zeit überwunden ist. Manchen scheint das zu gelingen. Nach einem halben Jahr sind sie wieder „obenauf“, nach einem Jahr haben sie wieder einen neuen Partner. Bei anderen will der Riss nicht heilen. Sie tragen die Trauer verkapselt in sich, nur mit sehr dünnem Schorf bedeckt. Und immer wieder bricht sie auf, wenn sie von irgendetwas angetriggert wird.
„An manchen Tagen geht es ganz gut. Da funktioniere ich scheinbar wie alle anderen“, erzählt die Kollegin. „Aber dann fährt mir ein Geruch in die Nase, ich sehe aus dem Augenwinkel etwas vorbeihuschen, ich höre eine Stimme oder eine bestimmte Musik.“ Und schon ist sie wieder da, die Trauer, die sie in den Abgrund zieht.
„Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn weiterleben soll“, fragt sich die Trauernde. „Leben ist doch mehr als Funktionieren.“ Eine gute Frage. Mir scheint, die Trauer gehört zum Leben. So wie der Tod. Denn es werden immer Menschen, Tiere und andere Wesen, die unser Leben lange begleitet haben, sterben. Es ist also unvermeidlich, dass uns die Trauer trifft. Das ist nicht zu leugnen. Die (Lebens-)Kunst scheint also darin zu bestehen, der Trauer einen Platz in unserem Leben einzuräumen, ohne dass sie es erstickt.
Christiane Maass