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LEBEN IM WOHNPROJEKT

VON SOPHIE VOETS-HAHNE

© sophoartlive.de


Ich war Mitte Fünfzig und dachte zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich darüber nach, wie sich mein Wohnen im Alter gestalten sollte. Ich dachte, noch unendlich viel Zeit zu haben, um diese Frage anzugehen.

Dann kam der Anruf einer langjährigen Bekannten, die ein Wohnprojekt plante. Sie fragte, ob ich dabei sein wolle.

Ich reagierte skeptisch, zum einen befürchtete ich, in einem Wohnprojekt meine Privatsphäre zu verlieren. Zum anderen war ich wenig geneigt, u. U. Gemeinschaftsaufgaben übernehmen zu müssen, die mir keine Freude bereiten würden.  Trotzdem interessierte mich das vorliegende Konzept, welches das Projekt für Menschen unterschiedlicher Milieus öffnete und das ein Engagement der Hausgemeinschaft in der Nachbarschaft sowie im Quartier vorsah. Und so ließ ich mich doch überreden, zu einem Treffen der Gruppe zu kommen. Dort traf ich dann Menschen aus alten Zeiten wieder. Meine Skepsis wurde kleiner. 

Zu diesem Zeitpunkt war schon klar, dass das Projekt zustande kommen würde und dass es eine Bauplanung, ein Grundstück und einen Investor gab. Letztendlich hat mich dann auch der Ort des Projektes überzeugt – dieser lag in der Nähe unseres ehemaligen Kindergartens. Das fühlte sich für mich heimisch an. Als ich dann das Grundstück vor Ort sah sowie die Baupläne, entschied ich mich. 

Nun lebe ich seit dreizehn Jahren im Wohnprojekt mit allen Höhen und Tiefen. 

Die ersten Tage und Wochen nach dem Einzug waren geprägt durch eine positiv aufgeladene, frohe Erwartungshaltung und eine fast euphorische Stimmung. In einer Versammlung trugen wir unsere Erwartungen zusammen, die dann auf großen Papierfahnen festgehalten und schön gestaltet wurden.

Wir wollten Alles und zwar sofort: es gab Veranstaltungen jeglicher Couleur, wir beteiligten uns am Sommerfest im Quartier (tun wir immer noch), Studierende wurden eingeladen, um das Projekt zu bewundern, man kochte zusammen, es gab Ausstellungen im Treppenhaus und ganz wichtig: es wurden regelmäßig Hausversammlungen abgehalten. Dort kam alles auf den Tisch.

Schnell zeigte sich aber, dass die anfängliche Euphorie sich eindämpfte, die frohe Fassade Risse bekam. Der lange und mühsame, der konfliktreiche Weg des gegenseitigen Kennenlernens begann.  Das zeigte sich vor allem in den Hausversammlungen. Die waren nichts für schwache Nerven. Bald stellte sich heraus: die Bereitschaft, unterschiedliche Lebensstile, Milieus zu überwinden benötigt Zeit. Es musste wachsen. 

Wer plant das Ganze, wer engagiert sich, wer hält sich zurück, wieviel Offenheit und Konfliktfähigkeit verträgt das Zusammenleben und wieviel Intrigantenstadl? Haben diejenigen, die die Koordinationsarbeit organisieren, mehr Macht? Darf Macht in diesem Zusammenhang überhaupt eine Rolle spielen?  Ein Konzept, das soziokulturelle Aktivitäten der Bewohner*innen vorsieht, ist für Menschen, die einziehen, um eine Versorgungssicherheit zu erlangen, eher nichts.

Es begann ein Prozess, der mich viel über Grenzen lernen ließ und darüber, dass Zurückhaltung manchmal der bessere Weg ist. 

Überhaupt Konfliktfähigkeit – es gab viele, viele Dramen und sehr viel Dünnhäutigkeit. Die Blickwinkel hätten manchmal nicht unterschiedlicher sein können, z. B. in Situationen, von denen einige sich verletzt fühlten und in denen andere gar kein Problem sahen. Darf beispielsweise jemand die Pflanze, die ich ins Treppenhaus gestellt habe, woanders platzieren, ohne mich zu fragen? Wer bestimmt denn, welche Pflanzen im Treppenhaus stehen dürfen und welche nicht? Wer bestimmt, welche Bilder aufgehängt werden und wie lange diese dort hängen dürfen? Was passiert, wenn in der Hausversammlung etwas beschlossen wurde, sich einige aber nicht daran halten? Manche forderten gar eine Art Corporate Identy – z. B. bei der Balkonbepflanzung, was andere empört von sich wiesen. Das Thema war dann auch schnell „durch“.

In der Theaterpädagogik gibt es die berühmte Übung „Komm her – geh weg“. Es gab Zeiten, in denen man geneigt war, einen britischen Regisseur einzuladen, um das tägliche „Komm her – geh weg“-Drama zu betrachten. Und man selbst? Mittendrin in diesem Drama. Da half nur eines: Rückzug!

Aber was sich auch sagen lässt – wenn man Konflikte hat, lernt man sich kennen und das verbindet. Über die Jahre hinweg entstand so eine gewisse unausgesprochene Übereinkunft, die eine Beruhigung mit sich brachte. Und so kommt man eines Tages – vielleicht fünf bis sechs Jahre nach dem Einzug – nach Hause und sieht zwei Menschen, fröhlich Kaffee trinkend, gemeinsam im Garten sitzen, die sich eigentlich geschworen hatten, nie wieder miteinander zu sprechen. Für sich selbst darf man lernen, dass man nicht zu jedem Geburtstag eingeladen wird und zum Lernprozess gehört zwingend, dass das durchaus in Ordnung ist. 

Menschen haben unterschiedliche Charaktere und Vorstellungen. So ist es.

Wir lernen durch Konflikte, Konflikte bringen uns in Überlegungen und halten uns lebendig. Wenn die Planer*innen eines Wohnprojekts dies vorher einrechnen und eine gute Idee entwickeln, wie mit Konflikten umgegangen werden kann (z. B. durch Mediation | Begleitung), dann kann das sehr hilfreich sein. Bei uns hat das nicht so gut geklappt. Leider war in manchen Zeiten der Flurfunk der vorherrschende Kommunikationsweg. 

Aber, und jetzt kommt die gute Nachricht: eigentlich kann man nach dreizehn Jahren sagen, es bleibt niemand wirklich allein!  Kommt jemand aus dem Krankenhaus oder ist krank – dann können sich schonmal ein Süppchen, eine gefüllte Einkaufstüte, ein nettes Buch oder ein paar Blümchen vor der Wohnungstür vorfinden. Oder die Nachbarin kommt rüber zu einem Weinchen, zum Spieleabend oder auf einen gemeinsamen Film. Zu Ostern oder Weihnachten hängen manchmal entzückende Überraschungen an der Tür. Im Sommer gibt es Kaffee für alle im Garten (Tassen bitte selbst mitbringen!).

So hat sich das über die Jahre hinweg eingependelt. Es gibt nicht die große Gemeinschaft; es gibt bilaterale Beziehungen, kleine Gemeinschaften – auch gut. Schließlich leben wir unser Leben und kein Konzept.

Und dann kam Corona – und diejenigen, die weiterhin engagiert geblieben sind und die weiterhin an das Konzept geglaubt hatten, sorgten bereits im ersten Lockdown dafür, dass der Kleinkünstler des Stadtteils ein Gartenkonzert gab. Danke dafür. Alle Nachbarn rundherum standen auf ihren Balkonen und freuten sich.

Das tat gut und hat demütig daran denken lassen, dass man gemeinsam doch ein bisschen weniger allein ist. 

Und dafür haben sich die dreizehn Jahre eigentlich gelohnt.

Ein Kommentar

  • Christiane

    Danke für diesen ehrlichen Bericht, Sophie! Den sollten wirklich alle lesen, die ein Gemeinschaftswohnprojekt planen. Und eigentlich nicht nur die, denn diese Erfahrungen und Reflexionen sind wertvoll für alle, die Wert auf Gemeinschaft legen und einen Weg suchen, das Zusammenleben im Nahumfeld gut zu gestalten.

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