SPÄTES DEBÜT
So richtig ins Bewusstsein gedrungen sind sie mir das erste Mal durch einen Artikel im Guardian, der mir vor längerer Zeit mehr oder weniger zufällig in die Hände gefallen ist. Die Autorin Amalia Hill beschreibt darin einen Trend in der Verlagswelt Großbritanniens, der sich dadurch auszeichnet, dass immer mehr Autorinnen jenseits der sechzig, siebzig oder sogar achtzig ihren ersten Roman veröffentlichen und auf großes Interesse bei den Leser*innen stoßen. Bei meinen Recherchen zur Lage in Deutschland stellte ich zu meiner großen Freude fest, dass sich dieser Trend auch hier abzeichnet. Zu den bekanntesten Büchern gehören wohl „Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus, „Der Klang der Erinnerung“ von Joe Browning Wroe oder „Das Theater am Strand“ von Joanna Quinn. Alles importiert, zugegeben, aber die deutschen Schriftstellerinnen ziehen nach.
Nachdem Ingrid Noll viele Jahre als Ausnahmeerscheinung einer Spätberufenen herhalten musste – sie veröffentlichte ihren ersten Roman „Der Hahn ist tot“ mit Mitte fünfzig – drängen weitere Autorinnen in fortgeschrittenem Alter auf den Markt und sind damit erfolgreich. Gabriele von Arnim zum Beispiel hat bereits ihr zweites Buch herausgebracht, das auf der Spiegel-Bestsellerliste steht. Helga Schubert, die 2020 achtzigjährig mit ihrem Text „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, ebenfalls. Wobei zu Letzterer gesagt werden muss, dass sie in jüngeren Jahren neben ihrem Beruf als Psychologin bereits Kinderbücher, Prosatexte und Theaterstücke in der DDR veröffentlicht hatte, dann jedoch eine fast zwanzigjährige Publikationspause einlegte. Helga Hammer, Karin Kalisa, Susann Páztor und Silvia Bovenschen sind nur einige weitere Namen auf der Liste erfolgreicher Spät-Debüts.
Ältere Schriftstellerinnen haben etwas zu sagen, sie spiegeln die Lebenswelt der größten Gruppe der Lesenden (Frauen jenseits der fünfundvierzig) wider, haben Substantielles und oft Überraschendes zu bieten. Das Schöne ist: sie hecheln nicht dem Zeitgeist hinterher, sondern setzen sich souverän darüber hinweg, um über das zu schreiben, was ihnen erzählenswert erscheint. Entgegen dem sich hartnäckig haltenden Vorurteil, ältere Autorinnen schrieben eher seichte Literatur, zeigt sich auf dem Büchermarkt plötzlich die Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit von Frauen über fünfzig und ihren Erfahrungen, die sich in Lebensklugheit, aber auch in Radikalität ausdrückt. Wie widerständig und eigenwillig ältere Protagonistinnen sein können, zeigt die 80jährige Jane Campbell mit abgründigem Humor in ihrem Erzählband „Kleine Kratzer“. Nicht nur Elke Heidenreich und Christine Westermann waren begeistert.
Miranda Cowley Heller, die mit „Der Papierpalast“ in den USA großen Erfolg hatte, sagt in einem Interview: „Viele denken, dass Frauen in dem Alter verkümmern und schrumpfen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir werden besser. Ich wollte eine glaubhafte Frauenfigur schaffen, die sexuell aktiv ist, eine Karriere hat und all diese Dinge.“ Nach ihrem Dafürhalten konnte sie erst als Sechzigjährige dieses Buch über eine Fünfzigjährige schreiben. Vorher hätte ihr die Erfahrung gefehlt, konstatiert sie.
Dass es für bestimmte Bücher bestimmte Erfahrungen und ein bisschen mehr im Lebensgepäck braucht, hat sich inzwischen auch in der Verlagswelt herumgesprochen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil für ältere Debütantinnen ist, dass viele von ihnen schon vor ihren Veröffentlichungen geschrieben haben, oft als Journalistinnen oder Wissenschaftlerinnen, sodass sie sich auf das schriftstellerische Handwerk verstehen, was eine gewisse literarische Qualität gewährleistet. Trotzdem ist es für ältere Autorinnen ungleich schwieriger, einen Verlag zu finden als für jüngere, da Verlage in erster Linie wirtschaftlich denken und bei Jüngeren eher davon ausgehen, dass der finanzielle Aufwand für die Vermarktung sich lohnt.
Mittlerweile habe ich einige Bücher dieser Spät-Debütantinnen gelesen und freue mich sehr, dass es immer mehr von ihnen gibt. Auch wenn es mich durchaus interessiert, was junge Menschen so umtreibt, es ist einfach schön, in der Literatur Menschen und Geschichten zu begegnen, die näher am eigenen Leben oder Lebensgefühl dran sind. Für mich sind sie eine echte Bereicherung für den Buchmarkt.
REGINA SEIDEL
Ein Kommentar
Iris Other
..irre gut geschrieben, informativ, ausreichend emotional, dennoch nicht schwülstig.
Macht Mut, weiterzuschreiben. Das Angefangene weiter zu treiben, vielleicht auch auf Verlag-Suche zu gehen.
Tolle website, schaue immer wieder gern vorbei.