Uncategorized

MEIN BILD VOM ALTER

MEIN BILD VON ALTER | Regina Seidel


Als Erstes fällt mir dazu ein, dass ich so selbst bestimmt und selbstständig leben möchte, wie ich das – zumindest weitestgehend – bisher tue. Ich will mein Leben aktiv gestalten und Teil dieser Gesellschaft sein, ohne die Zuschreibungen, denen frau sich ausgesetzt fühlt, wenn sie ein bestimmtes Alter überschritten hat und unversehens zur Seniorin wird. Allein diese Bezeichnung ist für mich schon negativ besetzt.
In vielen einschlägigen Ratgebern zum Thema Alter und Älterwerden heißt es, man solle dem Alter trotzen. Warum sollte ich das tun? Ich bin mein ganzes Leben lang älter geworden und konnte nichts dagegen machen. Wenn, dann gilt es doch wohl eher, den Zumutungen des Alters zu trotzen, den Zipperlein, die sich plötzlich einstellen, den Beschwerlichkeiten, die der körperliche Verfall so mit sich bringt. Oder vielleicht doch eher den Altersbildern, die uns so vorgesetzt werden?
Da ist auf der einen Seite das Bild vom Defizitären, vom Verfall, von Demenz und Retardierung, das sich beim Stichwort Alter und Älterwerden auftut, und sogleich steigt einer der Geruch von Urin und Muff in die Nase. Alter scheint gleichbedeutend mit Hinfälligkeit, Hilflosigkeit und Einsamkeit. Auf der anderen Seite ein ebenso einseitiges Bild von hyperaktiven Rentner*innen, die gar nicht wissen, wohin mit ihrer Energie. Die sportlich und agil sind wie keine Generation vor ihnen. Die gut versorgt und wohlsituiert vom Golfplatz ins Fitnessstudio hecheln, von einem Event zum nächsten jetten und es sich zu Hause und in der Welt gut gehen lassen.

Was aber ist mit der schweigenden Mehrheit? Mit denen, die genau dazwischen liegen? Die nicht fit wie ein Turnschuh in Rente gehen, aber trotzdem noch weit entfernt sind von Inkontinenzeinlagen und einsamen Tagen in Gesellschaft ihres Fernsehers?

Es kommt mir manchmal so vor, als sei diese Mehrheit nicht nur schweigsam, sondern auch unsichtbar.
Ich wünsche mir, dass der alt oder älter werdende Teil der Gesellschaft endlich als das gesehen wird, was er ist, nämlich als eine ebenso vielfältige und diverse Gruppe wie jede andere Altersklasse auch. Ich möchte nicht als „vulnerabele“ Spezies betrachtet werden, die eigentlich nur Geld kostet und sonst zu nichts mehr nütze ist, sondern umfassend betreut werden muss.
Ich wünsche mir, dass wahrgenommen wird, dass eine andere Generation alt wird als die unserer Eltern, die besser ausgebildet ist (vor allem die Frauen) und sich einmischen will in das, was in dieser Gesellschaft passiert; die mit dem Eintritt ins Rentenalter nicht auch gleich noch die Verantwortung für das eigene Leben und Wohlbefinden abgibt, die immer noch etwas bewegen möchte.

Dazu braucht es Altersbilder jenseits von Abführmitteln und Inkontinenzeinlagen, aber auch den ewig im Sonnenschein tanzenden glattgebügelten Freizeitsenior*innen.
Ich wünsche mir strukturelle Veränderungen wie zum Beispiel die Erschaffung von Kulturzentren, in denen sich alle Generationen begegnen können, um gemeinsam etwas zu gestalten oder zu bewegen. Wohnmöglichkeiten, die individuellen Bedürfnissen gerecht werden, aber auch Raum für Begegnung bieten. Ich wünsche mir Teilhabe und Mitspracherecht. Ich möchte gehört und gesehen werden und vor allem möchte ich meine Würde behalten, auch dann noch, wenn ich mich vielleicht nicht mehr zur Wehr setzen kann.

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert