EIN GEDICHT KANN HELFEN
Ich lese gern Gedichte und ich zeichne gern. Als nun die Weihnachtszeit kam, habe ich mir diese beiden Eigenschaften zunutze gemacht und kleine Bilder in neutralen Ikea-Rahmen verschenkt. Sie sehen etwa alle so aus wie das hier abgebildete: Links steht das Gedicht von Hilde Domin „Nicht müde werden“, rechts steht ein Mensch und hebt die Hand für einen Vogel, der möglicherweise dort landet. Oder auch nicht. Das weiß man nicht.
„Nicht müde werden
Hilde Domin
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.“
So lautet das Gedicht. Ich habe das Bild an etwa zehn Menschen verschenkt. Alle haben sich gefreut. Viele wollen es sich in die Wohnung hängen. Ich bin neugierig, wie oft sie das Gedicht über das Jahr lesen. Wie sehr sie dieses ‚Hand-Hinhalten-für-das Wunder‘, oder auch das ‚Nicht-müde-werden‘ betrachten und bedenken. Ob und wie sie es mit ihrem Leben füllen, was sie mir am Ende des Jahres über ihr Hand-Hinhalten und ihr Wunder erzählen.
Beim Übergeben des Geschenks habe ich meistens gesagt, dass mir das Gedicht so guttut, weil es mich immer wieder ermuntert und ermahnt: Wirf nicht die Flinte ins Korn. Schwatz nicht deprimierendes Zeugs nach, das die Pessimisten sagen. Behalte Mut und Hoffnung. Schrei nicht laut rum, sondern halte leise die Hand hin. Bittend, vielleicht demütig – wenn man so ein großes, abgenutztes Wort benutzen will. Dann kann in der Stille vielleicht etwas passieren. Ein Wunder. Auch so ein großes Wort. Man kann es unterschiedlich fühlen und füllen: mit Frieden, Liebe, einer überraschenden Erbschaft oder einer doch nicht so hohen Heizkostennachzahlung, einer Versöhnung oder vielleicht einer inneren Wandlung – who knows?
Hildes Gedicht wird zu meinem, zu Svens, Bines, Katreins, Susannes, Claudias, Sandras, Christians, Christophs und Mellis. Es ist für jede und jeden anders und verbindet uns doch. Hilde Domin hat das selbst so gut formuliert, dass ich diesen Text mit einem längeren Zitat von ihr beende.
„Der Leser ist der Zwilling des Dichters. Das Gedicht, einmal formuliert, wird das Gedicht des Lesers. (…) Das Gedicht ändert sich unmerklich, wenn es sich mit dem Ich des Lesers füllt. Denn es ist ja nur die Essenz einer Erfahrung, immer neu und anders gegenwärtig gemacht. Dabei bekommt die eigene Erfahrung des Lesers etwas von der Farbe des Gedichts, wird stärker, bunter, anders als er es von sich erwartet und als er es, ohne diese Formulierung, vielleicht je erfahren hätte. Die im Gedicht benannte Erfahrung tritt dem Menschen gegenüber als etwas Objektives und wird auf eine neue Weise vollzogen: als sein Eigenstes, das aber doch zugleich auch anderen widerfährt, ihn mit der Menschheit verbindet, ohne ihn auszusondern. Er ist einbezogen und mitgemeint. Das erregt und befreit zugleich.
Hilde Domin: Das Gedicht als Begegnung. in: Petzold, Hilarion G. und Ilse Orth: Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache. Poesietherapie, Bibliotherapie, Literarische Werkstätten, Bielefeld 2015
THOMAS AVENHAUS