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ABSCHIED VON CHAIM SOUTINES GLADIOLEN

© sophoartlive.de



Kunst macht etwas mit uns! 

Sie berührt uns, regt uns auf, tröstet, weckt Unverständnis. Manchmal sind wir ihr gegenüber auch gleichgültig. Ich bin Kunstvermittlerin und der Austausch über Kunst-, Kultur- sowie Wahrnehmungserlebnisse in der Gemeinschaft sind mir ein Lebenselixier.

Kommt eine neue Ausstellung in die Stadt, bin ich gespannt, was passieren wird. 

Unter Umständen muss ich mehrmals hin, um „reinzukommen“, um eine Beziehung zu den Werken und dem/der Künstler*in aufzubauen, um nachzudenken oder Widerstände zu überwinden. 

Der Bildhauer Anish Kapoor sagt, dass Kunst, die man schnell versteht, keine gute Kunst sei. Da könnte etwas dran sein.

Bin ich aber einmal im Kontakt mit den Werken bzw. mit dem/der Künstler*in, fühle ich mich wie in einer Wahlverwandtschaft. Die Ausstellung wird für einige Monate zu einer Art Heimat und in der Regel wachsen mir einige Arbeiten besonders ans Herz. 

Aber wenn es dann ans Abschied nehmen geht (meist nach 3 – 5 Monaten Ausstellungsdauer) und ich weiß, dass ich dieses oder jenes Werk u.U. nie wieder im Original sehen werde, zerreißt es mir das Herz. 

Wie kann ich dieses Werk bei mir behalten? 

Manchmal gehe ich nochmal mit Gleichgesinnten hin und wir sprechen darüber und teilen den Abschiedsschmerz. Manchmal zeichne ich das Werk (Bild, Skulptur oder Installation), um es mir besonders anzueignen oder ich stehe einfach davor und verabschiede mich.

Gerade war es wieder soweit: am 14. Januar 2024 schloss die Ausstellung „CHAIM SOUTINE – GEGEN DEN STROM“ in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf. Am Wochenende habe ich mich verabschiedet – von der Ausstellung und insbesondere von den „Gladiolen in der Vase“.

Chaim Soutine (1893 – 1943) war ein expressionistischer Maler, der die längste Zeit seines Lebens in Paris verbrachte. Geboren wurde er in einem Dorf nahe Minsk (damals Teil des russischen Kaiserreichs, heute Belarus). 

Alle Künstler*innen sind besonders, aber Soutine ist besonders besonders: er ist ein KünstlerKünstler. So sagt man. Viele kennen ihn nicht, aber er hat bekannte Künstler*innen nachhaltig beeinflusst. Francis Bacon etwa oder Jackson Pollock (z.B. hinsichtlich der expressiven Pinselstriche und der Art und Weise sowie der Energie wie Pollock Farbe auftrug). Amedeo Modigliani war Soutines Freund – einer, der ihm mehr als einmal aus der Patsche half. 

Wer interessiert ist, kann die Bilder von Chaim Soutine googlen. Wir können sie aus Urheberrechtsgründen hier nicht veröffentlichen. Aber selbst, wenn man seine Bilder nur online ansieht, wird man direkt auf den ersten Blick feststellen, dass sie eine besondere Energie transportieren. 

Ob Landschaften oder Marktplätze, ob Portraits oder Tiere (meist Kadaver) – alles zieht uns in den Bann. Niemals stimmen die Perspektiven, alles scheint immer kurz vor einem Kipppunkt zu stehen, auf uns einzustürzen. Dieses beunruhigende Gefühl, das Soutine in seinen Bildern transportiert, ist von unglaublicher Aktualität. Das führt dazu, dass die Menschen länger vor seinen Bildern stehenbleiben als sie es allgemeinhin tun. Und dann die Farben – das Rot, das Blau, die Kontraste. Oft drückte er die Farben direkt aus der Öltube auf die Leinwand, wodurch seine Bilder manchmal eine reliefhafte Anmutung erhalten, was ihre energetische Wirkung verstärkt.

Als ich diese kippenden Bilder mit ihrer Farbintensität das erste Mal sah, war das – ja – so verwirrend, dass ich mir zunächst einmal ein Bild mit einer einfachen Thematik suchen musste. Und das waren die „Gladiolen in der Vase“, die er 1917 gemalt hat. 

Blumenbilder verheißen Harmonie. Soutine hat die Blüten der Gladiolen wunderschön gemalt. Aber harmonisch ist das Bild nicht, denn auch hier scheint alles zu kippen. Die Blumen könnten niemals so in einer Vase stehen, sie würde schlichtweg umfallen. Und doch empfand ich insbesondere die Blüten der Gladiolen als besonders schön und mir nahegehend. Die Kelche der Blüten sind gar nicht expressiv, sondern sehr exakt gemalt, sehr fein. Und so blieb ich jedes Mal etwas länger vor den Gladiolen stehen. Sie wurden zu meinem Anker in der Ausstellung. Insbesondere die fein gemalten Blütenkelche, aus denen die expressiven scharlachroten Blüten herauswachsen, hatten es mir angetan. Sobald ich die Gladiolen gesehen hatte, konnte ich mich wieder den unglaublich aufregenden, kippenden Landschaften, Portraits (Pagen, Kellner, Bäcker, Köche – meist einfache Leute in ihren Arbeitspausen) oder Tierkadavern zuwenden.

Ich begann mich zu fragen, was diesen Maler angetrieben hatte, so zu malen, wie er es tat.

Chaim Soutine war Jude. Er kam aus einem Schtetl (ein kleines jüdisches Dorf mit einer starken religiösen Identität). Dort war nicht vorgesehen, dass jemand Künstler werden sollte. Man wurde Handwerker oder Rabbi. Soutine wollte indes schon als Kind Künstler werden und das zeigt schon früh seine Eigensinnigkeit. 

Im Schtetl waren Bilder verpönt; es war aus religiösen Gründen nicht erlaubt, Menschen zu malen. Soutine aber zeichnete als Jugendlicher heimlich den Rabbi seines Dorfes. Als dessen Söhne dies erfuhren, schlugen sie ihn krankenhausreif. Dafür bekam er später ein Schmerzensgeld und dieses Geld erlaubte ihm, zunächst in Minsk und später in Vilnus die Kunstschule zu besuchen. Von Vilnus aus ging es dann 1913 nach Paris.

Was mich auch bewegt und was ich bisher nicht wusste: in der Zeit des ausgehenden 19ten Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg kamen ca. 100.000 Juden aus Osteuropa – Russland, Polen, der Ukraine, dem heutigen Belarus – nach Paris, um vor dem Antisemitismus zu fliehen. Paris war die freie Stadt, in der es sich unbehelligt leben ließ. Niemand war diskriminiert. Paris war zudem die Stadt der aufblühenden Kunstszene. 

Und so gelangte der bettelarme und hungrige Chaim Soutine 1913 nach Paris. Er kam im La Ruche (Bienenkorb) unter, einem heruntergekommenen provisorischen Pavillon, der von über 100 Künstlern bewohnt war. Marc Chagall (auch aus einem Schtetl, Vitebst, heute Belarus) war sein Nachbar. Modigliani wurde sein Freund. Er war umgeben von Künstler*innen, die die Kunst des 20sten Jahrhunderts maßgeblich beeinflussten. 

Statt Essen kaufte er lieber Farben und nahm Unterricht, zunächst in der Ecole des Beaux Arts und an anderen Kunstschulen. Er genoss die Nachmittage im Louvre und begab sich alsbald auf eigene Forschungswege – er studierte van Gogh, Jean Fouquet, El Greco und v.a. Rembrandt. Dieser hatte einen spürbaren Einfluss auf Soutines Verwendung von Licht und Schatten. Zudem bewunderte Soutine Rembrandts Fähigkeit, Emotionen durch die Malerei auszudrücken. In seinen frühen Pariser Jahren, als noch niemand seine Bilder haben wollte, gelang es ihm, doch manchmal Stillleben oder Blumenbilder zu verkaufen. Zu diesen gehörten die „Gladiolen in einer Vase“ von 1917. 

Nun habe ich mich von den Gladiolen verabschiedet. Ich werde das Originalbild nie wieder sehen können. Es wird in irgendeine „private collection“ zurückkehren – vermutlich in den USA, wo Soutine wesentlich bekannter ist als bei uns. Da ich das Bild hier nicht abdrucken kann, habe ich es einfach auf dem IPad nachgemalt und so habe ich es in meinem Herzen verankert. 

Chaim Soutine starb 1943 in Paris in einem Krankenhaus an einem Magengeschwür, das er sich aufgrund der langen Mangelernährung und des Hungers, zugezogen hatte.  

Mitten in der deutschen Besatzungszeit hatte seine Gefährtin ihn unter Lebensgefahr aus seinem Versteck ins Krankenhaus gebracht. Allein, es war zu spät, und so hatte der Antisemitismus ihn doch noch auf mörderische Art und Weise eingeholt.

SOPHIE VOETS-HAHNE

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