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DEN TOD MUSS MAN LEBEN

Vom Umgang mit dem Sterben, dem Bestatten – und ein Literaturtipp

Zwei Erlebnisse, zwei Begräbnisse. Das eine Begräbnis: konventionell, im Herbst. Eine Trauerrednerin spricht über die Verstorbene, die sie nicht gekannt hat. Sie zählt die Lebensstationen auf und versucht, der Persönlichkeit nachzuspüren. Die Zuhörenden gleichen Wahrheit und Erzählung miteinander ab, geraten in ein Abwägen und fühlen unangenehme Diskrepanzen. Obwohl sich die junge Frau Mühe gibt, bleibt ihr Vortrag vage und leblos. Dann folgt eine kurze Bach-Kantate und der Gang mit den anderen stummen Menschen hinter dem Sarg her zum Grab. Dort steht man mit gesenktem Blick in der Schlange, wirft Hände voll Erde auf den Sarg, und hat dabei die Horrorvision, vornüber zu kippen und ins Grab zu fallen. Dann geht man vorbei an der engen Familie und nickt dabei scheu, danach senkt man wieder den Blick. Und statt Trauer zu fühlen, hat man eher Angst, etwas falsch zu machen. Am Ende fährt man mit der U-Bahn allein oder zu zweit nach Hause. 

Das andere Begräbnis: auch im Herbst, auch im Regen, auf dem Dorf. Aber mit einer ungewöhnlichen Bestatterin. Sie hatte nach dem Tod im Hospiz schon veranlasst, dass die Tote drei Tage dort aufgebahrt wird. Die Familie traf sich jeden Nachmittag am Bett der Toten, um zu beten, gemeinsam zu singen und miteinander zu reden. Der erste Tag war voller Beklommenheit vor der Toten, aber mit der Zeit, die die Familie um sie herumstand, gewöhnte diese sich langsam an ihren Anblick. Dass das Gesicht keine Regung mehr zeigte, die Augen nicht mehr blickten, der Mund nicht mehr sprach. Am zweiten Tag war der Anblick vertrauter, die Familie konnte die Tote anfassen, ihr noch einmal über die Hand streicheln, über ihren Gesichtsausdruck sprechen, der wirkte, als habe sie den Tod herbeigesehnt und sich entspannt, als er dann gekommen ist. 

Am dritten Tag wirkte die Tote dann wirklich tot. Vorher hatte man manchmal den Eindruck, als waberten Luftmassen sacht über dem Leib. Jetzt war dieser starr und frei von allem. 

Die Bestatterin forderte Nichte und Neffen der Toten auf, ihre Tante jetzt umzukleiden und sie dann in den Sarg zu legen. Das Umkleiden haben sie nicht geschafft, aber der Freund des Neffen sagte, er würde sich das zutrauen. Als sie umgekleidet war, haben Nichte und Neffe die Tote hochgehoben, in den Sarg gelegt und den Deckel zugeschraubt. Es war ein erster Abschied, der sich die Zeit genommen hatte, die er brauchte. 

Der zweite Abschied, die Urnenbestattung, fand einige Zeit später statt. Die Bestatterin kam zum Familiengrab, wo die Familie, Verwandte und Dorfbewohner*innen warteten. Sie bat alle, sich im Kreis um das Grab zu stellen und  an den Händen zu fassen. Menschen, die sich vorher noch nie gesehen hatten und die Familie kamen der Aufforderung nach. Einige Gesichter zeigten peinliches Erstaunen oder skeptisches Befremden. Doch die Bestatterin hatte die Zügel fest in der Hand. Sie sagte, sie sänge jetzt ein amerikanisches Lied und wir sollten zusammen den Refrain singen, der einfach war und als Text so ähnlich wie „lalala oh yeah“ ging. Ich habe das Lied vergessen, aber nicht seine Wirkung: Alle Beteiligten sangen anfangs zögerlich, dann immer kräftiger mit, sahen sich an, spürten den Regen nicht mehr, wurden eine Gruppe. Als die Bestatterin die letzte Strophe und die Trauergemeinde den letzten Refrain gesungen hatte, öffnete sich für einen Moment die Wolkendecke und ein Lichtstrahl fiel auf das Grab. Die Bestatterin sagte mit Blick zum Himmel: „Erika, ich wusste, dass du uns gehört hast.“ Allen fiel die Kinnlade herunter. Dann war die Beerdigung zu Ende und es gab Kaffee und Kuchen. Im Café herrschte wieder die bekannte Beklommenheit, aber der Moment vorher wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Wenn ich heute daran denke, sehe ich bunte Farben, wenn ich an die andere Beerdigung denke, sehe ich alles grau in grau. Die eine Beerdigung war eine Veranstaltung für die Tote, die andere eine für die Lebenden. Sie fühlten sich zum Prozess dazugehörig. Sie waren nicht allein. Sie haben fröhlich gesungen. Die Tote hat es ihnen gedankt. So scheint es mir. 

Die Bestatterin hat ein Buch geschrieben, das für alle gut ist, die einen anderen Umgang mit Sterben, Tod und Bestattung suchen. 

LITERATURTIPP: Angela Fourness | Den Tod muss man leben. Eine Bestatterin hilft – denen, die gehen, und denen, die bleiben. München 2018

THOMAS AVENHAUS

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