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DREI SEITEN AM TAG



Als ich vor fast genau dreiundzwanzig Jahren den von Julia Cameron in ihrem Buch „Der Weg des Künstlers“ vorgeschlagenen Kreativitätsvertrag mit mir selbst abschloss, hätte ich nicht gedacht, dass ich die Morgenseiten so lange schreiben würde. Sie waren Teil eines zwölfwöchigen Programms zur Entwicklung und Förderung der eigenen Kreativität. Mich jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen hinzusetzen und drei DIN-A4-Seiten vollzuschreiben, ohne auf Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung zu achten und nur dem eigenen Gedankenstrom zu folgen, erschien mir schwierig und nicht lange durchzuhalten.

Zeitweise ist es mir sehr schwergefallen, die in dem Buch vorgeschlagenen Aufgaben konsequent und diszipliniert zu absolvieren, aber die Morgenseiten habe ich immer geschrieben. Bis heute. Ich stehe dafür sogar früher auf, wenn es sein muss, obwohl ich mich wirklich nicht gerne mitten in der Nacht aus dem Bett schubse, aber sie gehören zu meinem Leben und zu meinem Weg in den Tag wie der notwendige Gang zur Toilette, wenn ich aufwache. Seit dreiundzwanzig Jahren mache ich mir morgens als erstes einen Milchkaffee – nur während meiner streng veganen Phase habe ich Matchatee getrunken – setze mich an den Schreibtisch und schreibe meine drei Seiten. Konsequent, diszipliniert und ohne darüber nachzudenken, egal, wo ich bin oder wer bei mir zu Besuch ist. Bis heute hat es nur wenige Male gegeben, an denen es wirklich nicht möglich war, und meistens fühlt(e) sich der Tag dann irgendwie falsch an.

Das Buch von Cameron, das ich irgendwann in „Der Weg der Künstlerin“ umbenannt und umgestaltet habe, hat mir in vielerlei Hinsicht geholfen und mich ermutigt, meinen Schreibfähigkeiten zu vertrauen, doch die Morgenseiten waren wirklich das Wichtigste, was sie mir mit auf den Weg gegeben hat. Anfänglich fiel es mir nicht leicht, all meine Gedanken und Gefühle völlig ungehemmt aufs Papier zu bringen, aber je länger es dauerte, desto leichter wurde es. Dazu hat sicher auch der Gedanke beigetragen, dass niemals irgendjemand diese Ergüsse lesen würde. Wenn ich ein, zwei Collegeblöcke vollgeschrieben habe, zerreiße und vernichte ich sie, ohne sie noch einmal gelesen zu haben. Gefühlsmäßig entsorge ich damit auch gleich all die belastenden Momente, die mich in der entsprechenden Zeit umgetrieben haben.

Was den Schutz vor fremden Augen betrifft, bleibt natürlich ein kleines Restrisiko, weil nicht gewährleistet ist, dass ich zu gegebener Zeit alles vernichtet habe, aber da ich mit meinen Töchtern verabredet habe, dass nach meinem Tod alle meine Schreibbücher ungelesen entsorgt werden, vertraue ich auf diese Verabredung.

Die Morgenseiten wurden für mich schnell so etwas wie ein Mülleimer, in den ich alles unreflektiert hineinwerfen kann und darf. Ich erlaube mir zu jammern und zu schimpfen, ungerecht zu sein, pathetisch und polemisch, und mich ewig und drei Tage mit denselben Problemen herumzuplagen, ohne jemandem damit auf die Nerven zu gehen außer mir selbst.

Es hat durchaus immer wieder Zeiten gegeben, in denen ich gedacht habe, sie seien unnötig und überflüssig, weil ich nur Banalitäten niederschrieb beziehungsweise schreibe, aber inzwischen weiß ich, dass selbst diese völlig banalen Dinge ihre Berechtigung und ihren Wert haben. Das morgendliche Schreiben hilft mir, meine Gedanken zu strukturieren, meine geheimsten Gefühle aufzuspüren, und manchmal tun sich Erkenntnisse auf, die mich selbst überraschen. Hin und wieder zeigen sich Lösungen, auf die ich trotz heftigen Nachdenkens nicht gekommen bin; die Seiten beruhigen mich, wenn mich sonst nichts beruhigen kann; und manchmal taucht sogar eine Schreibidee auf, die ich weiterspinnen kann.

Immer wieder verspüre ich viel Dankbarkeit Cameron gegenüber für diese Anregung, vor allem, wenn sonst gar nichts mehr geht. Eigentlich geht ziemlich oft gar nichts mehr, wie Doris Dörrie in ihrem Buch „Leben, schreiben, atmen“ an einer Stelle konstatiert. Keine Ideen, keine Energie, keine Kraft. Die Morgenseiten sind eine Möglichkeit, das alles wieder zu mobilisieren, selbst durch Banalitäten.


REGINA SEIDEL

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