Uncategorized

DUNKELSPAZIERGÄNGE

Angefangen hat es in der Corona-Zeit, im Spätsommer 2020, als die Tage schon kürzer wurden.

Nachdem ich den ganzen Tag im Homeoffice, bei irgendwelchen digitalen Veranstaltungen, Zoom-Konferenzen etc. verbracht hatte, musste ich unbedingt raus an die Luft. 

Zugleich wollte ich niemanden treffen – es war die Zeit, in der man sogar draußen Masken tragen sollte (inzwischen wissen wir, dass das unnötig war), aber damals wollte ich unbedingt vermeiden, mich anzustecken, und so begann es mit den Dunkelspaziergängen.

Bald entdeckte ich, dass das Gehen im Dunkeln besonders ist. Ich hatte das Gefühl und habe es immer noch – denn inzwischen habe ich die Dunkelspaziergänge kultiviert –, dass die Dunkelheit etwas Besonderes mit sich bringt und ich denke darüber nach, was das sein könnte. Etwas Geborgenes, Beruhigendes vielleicht? Auch etwas Geheimnisvolles?

Ich gehe vor allem zur Feierabendstunde hinaus. Das klappt auch momentan noch gut, obwohl die Tage im März schon heller werden. 

Es ist die Stunde, in der die Menschen heimkommen, in der Paare, Familien, Freunde oder Singles sich an den Tisch setzen und den Tag loslassen. In den Küchen wird das Abendessen zubereitet. Vielleicht erzählt man etwas beim Tisch decken und beim Essen; vielleicht schweigt man?

Natürlich ist es ein wenig voyeuristisch, so in die hell erleuchteten Wohnungen zu schauen, das räume ich ein, aber es ist interessant und weckt auf eine bestimmte Weise meinen Lebensgeist. 

Und manchmal frage ich mich: Wie wäre es, wenn ich in diesem Haus oder in jener Küche leben würde? Was wäre das dann für ein Leben? Welche Menschen leben hier? Was strahlt ihre Wohnung aus? Geht es ihnen gut? Oder ist da etwas kurz vorm Kippen? 

Und im Weitergehen versenke ich mich in eigene Gedanken: Ist denn bei mir alles so, wie ich es mir gewünscht habe? Wie fühle ich mich eigentlich? Die Wohnungen werden zu Lebensspiegeln. Es ist ein bisschen wie im Theater. Viele kleine Theaterbühnen sind das, die ich während meiner Dunkelspaziergänge betrachte.

Manches finde ich auch nicht schön – fremd. Dann sage ich mir: Nein, hier möchte ich ganz und gar nicht hin, unter diese Leuchtstoffröhre oder in diese Wohnung mit diesem riesigen Fernseher, der alles dominiert. Manche Wohnungen und Häuser sind mir zu künstlich, zu inszeniert oder dekoriert. Manchmal spürt man die Sprachlosigkeit oder Einsamkeit der dort wohnenden Menschen. Dann wendet sich der Blick wieder zur Straße oder zum Himmel und die Gedanken gehen weiter zum eigenen Ich. 

Mir wird bewusst, dass ich den Dunst der Abendstunde mag. Er umhüllt mich. Ich bilde mir ein, dass die Luft besser ist als tagsüber. Ich atme durch. Alles wird leiser. Es sind weniger Menschen unterwegs und die wenigen, die mir begegnen, streben möglichst schnell nach Hause.

Wir Menschen fürchten die Dunkelheit, fühlen uns von ihr bedroht. Im Dunkeln lässt sich gut munkeln. Vielleicht trifft es das – das Ungewisse eröffnet auch Möglichkeiten. Denn es kommt immer wieder der Gedanke auf: Was wäre, wenn? Und so kommt mir das Lied von Paul Simon in den Sinn: “Hello, darkness, my old friend / I’ve come to talk with you again – the sound of silence.”

Mir fällt ein, dass wir als Kinder in unserer Clique eine Mutprobe hatten – wir wohnten neben dem Friedhof. Die Mutprobe war: wir mussten allein im Dunkeln auf den Friedhof gehen. Die großen Jungs überwachten das. Ich weiß nicht mehr, ob ich die Mutprobe wirklich bestanden habe. Auf dem Friedhof war es richtig dunkel, keinerlei Beleuchtung. Wir waren auf dem Land. Ich erinnere mich aber noch, dass ich es schon bis hinter den Eingang auf den Hauptweg geschafft habe und dass es schauerlich schön war. Ich habe mich damals darauf verlassen, dass die großen Jungs in der Nähe waren, und die würden schon dafür sorgen, dass mir nichts passiert. Also waren sie wie die Straßenlaternen heute …

Vielleicht ist damals die Faszination für das Dunkle entstanden? Nachdem ich die Dunkelspaziergänge in meinem Leben kultiviert habe, weiß ich, dass sie eine gute Möglichkeit bieten, meine Gedanken fließen zu lassen und bei mir zu sein.

Oft spüre ich: es geht mir gut. Ich lebe in einem schönen Viertel, ein entspanntes Leben, kein Krieg. Und: der Tag ist noch nicht zu Ende. Jetzt beginnt die ruhige Abendzeit, ich kann loslassen.

Ich nehme die Gemütlichkeit der schönen Wohnungen mit, bis ich eine knappe Stunde später wieder vor meiner eigenen Haustür stehe und mich freue, schnell hineinzukommen, hochzugehen, in die Wohnung einzutreten, das Licht anzustellen (falls mein Mann dies noch nicht getan hat) und es mir in meinem wirklichen Leben gemütlich zu machen. 

SOPHIE VOETS-HAHNE

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert