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EIN ERBE IM HANDGEPÄCK

Reisen – das war mir lange nicht bewusst – war und ist für mich immer mit Aufregung und erhöhtem Blutdruck verbunden. Mein Herz klopft und mein Gehirn malt sich Worst-Case-Szenarien aus. Zug verpassen, Flugzeugabsturz, Autounfall. Sturm, Schnee, Dunkelheit, Ausgeliefert-Sein. Feindliche Menschen. Krieg. 

Krieg?

Wenn man sich mit dem Thema Kriegsenkel*innen beschäftigt, liest und hört man unweigerlich Fluchtgeschichten und damit von den Traumata der Großeltern und Eltern. Oft nicht von den Betroffenen selbst, weil ihnen die Worte fehlen oder der Schmerz zu groß ist, sondern von den Nachkommen. Viele Menschen meiner Generation, die Kriegsenkel*innen (etwa von 1960 bis 1975 geboren), fragen, forschen und berichten – Letzteres häufig, als seien sie 1945 selbst auf der Flucht gewesen. Das ist kein Wunder, denn Traumata vererben sich, wenn sie nicht aufgelöst werden. 

Auch ich habe mich mit der Fluchtgeschichte der Familie meines Vaters beschäftigt, mit der Evakuierung aus dem umkämpften Forst in der Lausitz im Februar 1945 und der Flucht aus Mahlow bei Berlin im Juli/August 1961. 

1945: Züge, die von Tieffliegern beschossen wurden, verängstigte Kinder, nichts zu essen, sieben Tage Fahrt durch brennende Städte, im Chaos der letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs nach Suhl in Thüringen. 

In den fünfziger Jahren waren es tägliche halb illegale Grenzgänge aus Mahlow (Ost) nach Lichtenrade (West) mit Schulheften unterm Pullover, geschmuggeltem Westgeld, Angst vor VoPos (Volkspolizei der DDR) – und dann kam 1961 die endgültige Abreise ins Flüchtlingsheim nach Westdeutschland. 

Als ich Kind war, hatte meine Großmutter immer zwei Wochen vor Beginn einer Urlaubsreise die gepackten Koffer neben dem Bett stehen. Meine Tante bekam vierzig Jahre nach der Flucht auf dem S-Bahnsteig Mahlow einen Schweißausbruch, als müsse sie noch einmal illegal über die Sektorengrenze gehen. Allein mein Vater hat in den 70er und 80er Jahren alle Ferienreisen der Familie nach England, Frankreich und Spanien stoisch gelassen geregelt – obwohl er 1961 als Organisator der Flucht anschließend eine Art Nervenzusammenbruch hatte. „Vegetative Dystonie“ wurde das genannt und nicht weiter behandelt. 

Und nun ich: Mein Freund und ich reisen mit einer Billigairline nach Portugal. Mit begrenztem Gepäck. In Lissabon kaufen wir zu viele Keramiktassen, Pullover und Andenken ein und sprengen damit das erlaubte Gepäckkontigent. Wir packen um. Mein Handgepäck besteht nun aus einer unförmigen Plastiktasche aus dem Continente-Supermarkt, rosafarben mit Bildern von aufgeschnittenem Rotkohl darauf. Wir sind morgens um 04:00 Uhr am Flughafen. Die Tasche passt nicht in das Gepäck-Check-Gerät. Ich werde nervös, mein Freund dagegen wirkt völlig unbeteiligt. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass er 1988 aus der DDR ausgereist ist und seine eigenen Strategien hat, mit solchen Situationen umzugehen. Todesmutig schmuggle ich die dicke Tasche an der verantwortlichen Dame, die streng blickend hinter ihrem Counter sitzt, vorbei. Doch beim Security-Check werden diese Tasche und damit ich herausgewunken. Ich bekomme die stramm verknoteten Henkel nicht auf. Die Sicherheitsbeamtin sagt: „stay calm“, doch meine Finger zittern. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie Drogen fände, obwohl keine drin sind. Die Dame winkt mich durch. 

Nur langsam kann ich meine Fantasien der letzten halben Stunde loslassen, nie mehr aus dem Flughafen Lissabon herauszukommen oder Unsummen für Übergepäck bezahlen zu müssen, alles Gepäck vor allen Reisenden umpacken oder auf alles Eingekaufte verzichten zu müssen, indem ich es vor aller Augen in den Müll werfe, um Gewicht und Masse zu reduzieren. Und bei alledem empfinde ich mich als neurotisch, kindisch, überempfindlich. Denn, meine Güte, es geht um ein paar Tassen und Pullover. Lächerlich. In diesem Moment denke ich noch nicht an die Geschichte meiner Familie, sondern bin ganz in der Gegenwart und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. 

Wir gehen den Gang zum Flugsteig entlang. Ich gehe voraus, biege um die Ecke und merke nach einiger Zeit, dass mein Freund mir nicht mehr folgt. Ich renne zurück; er steht an einem Wasser-Automaten. Erst jetzt, obwohl ich dachte, ich hätte mich beruhigt, verliere ich die Kontrolle und schreie ihn an: „Was machst du da? Komm jetzt sofort weiter.“ Er ist zu Recht sauer und schaut mich schweigend und vorwurfsvoll an. Ich schweige zurück. Später vertragen wir uns wieder. 

Erst viel später, als ich über den Vorfall noch einmal nachdenke, denke ich auch an die Fluchtgeschichte meiner Familie.

Als Nachfahre. Mit einem Erbe im Handgepäck.


THOMAS AVENHAUS

© Foto privat

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