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ZEITENWENDE 

CORONA, RUSSLANDS ÜBERFALL AUF DIE UKRAINE, KLIMAKATASTROPHEN UND EINE POLITIK, DIE EHER ÄNGSTE SCHÜRT, STATT HOFFNUNG AUF LÖSUNGEN ZU MACHEN. MANCHMAL MUSS MAN SEINEM UNMUT FREIEN LAUF LASSEN.


ZEITENWENDE | Christiane Maass
Glaubenssätze der Friedensgeneration auf dem Prüfstand


Krieg mitten in Europa! Nur zwei Flugstunden entfernt wüten Tod und Zerstörung. Die freiheitlichen Grundwerte werden in ihren Grundfesten erschüttert. Despoten und Diktatoren an der Macht. Was äußerlich eine Zeitenwende markiert, wird innerlich zum Wendepunkt in der politischen Biografie unserer Generation. Die Glaubenssätze der Friedensbewegten geraten ins Wanken. Die Diplomatie wird belogen. Verhandlungen werden abgebrochen. Die Waffen sprechen. Unser Bundeskanzler schweigt.

In den 80-er Jahren bin ich mit Freund*innen und vielen Tausend Gleichgesinnten auf die Straße gegangen – für Frieden, Umweltschutz, Gleichberechtigung und die Eine Welt. „Schwerter zu Pflugscharen“, „Frieden schaffen ohne Waffen“, „Jute statt Plastik“, „Frauenpower“ und das „globale Dorf“ waren unsere Leit- und Glaubenssätze. Die stehen aktuell auf dem Prüfstand, ja werden von manchen schon über Bord geworfen. Selbst die ursprünglich friedensbewegten Grünen fordern jetzt mehr Waffen für die Ukraine. Unfassbar!

Dabei schienen wir so vieles erreicht zu haben. Auch die Zeit schien für uns und unsere Ziele gearbeitet zu haben. Erst jüngst besuchte ich den ehemaligen Fliegerhorst in Oldenburg. Ich erinnere mich noch gut, wie wir in Ostermärschen vor die Tore dieses militärischen Geländes gezogen sind. Heute entsteht dort ein neuer Stadtteil mit hohen Umweltstandards im Bauen, einer Smart-City-Initiative und Raum für gemeinschaftliche Wohnprojekte. Das hätten wir uns bei allem Enthusiasmus für die Friedensbewegung in den 80-ern kaum zu träumen gewagt. Zu mächtig erschienen der Staat und die Bundeswehr. Heute wachsen schon Birken aus den Dächern der rot geklinkerten Kasernengebäude. Bald werden sie abgerissen und machen zivilen Bauprojekten Platz. „Schwerter zu Pflugscharen“!

Die Mauer ist gefallen, die DDR und die Sowjetunion sind Geschichte, Russland ist ein wichtiger Handelspartner geworden, der (mittlerweile ehemalige) Bundeskanzler und der russische Präsident sind Freunde. Fast zu schön, um wahr zu sein? Haben wir uns von Träumen leiten lassen und dabei versäumt, hinter die schöne Fassade zu schauen? Jetzt ist es schreckliche Gewissheit geworden, dass hinter dieser Maske Machtgier, territoriale Besitznahme und ungezügelter Kapitalismus verborgen waren. Was ist aus dem „Wind of change“ geworden?

Die Annektierung der Krim, die Unterdrückung der Opposition, der Abbau der Pressefreiheit, Giftmorde an Oppositionellen – all das hat uns zwar bedenklich die Köpfe schütteln lassen. Aber wirklich Kontra gegeben hat unsere Regierung nicht. Dem standen wirtschaftliche Interessen entgegen. Und wir haben von günstigen Lebensmittel- und Energiepreisen profitiert und geschwiegen.

Wir haben die Millionen-Jachten der Oligarchen in Marbella und andernorts bestaunt. Waren vielleicht genervt von der Verschwendungssucht und dem hemmungslosen Benehmen vermögender russischer Touristen in europäischen Urlaubsorten. Aber haben wir sie in ihre Schranken gewiesen? Nein, selbst unsere Fußballvereine haben sich von ihnen aufkaufen lassen. „Geld stinkt nicht“?

Haben uns der Wohlstand und der vermeintliche Frieden in Europa eingelullt? Haben wir unsere Konflikte in Stellvertreterkriege ausgelagert? BUMM! Und jetzt trifft es uns selbst! Bomben auf Kiew und Odessa, die auch bis Berlin fliegen könnten, wenn wir den russischen Kriegsherrn mit unseren Waffenlieferungen an die Ukraine zu sehr reizen.

Foto: C. Maass

„Schwerter zu Pflugscharen“? Derzeit können die Getreidefelder in der Ukraine nicht bestellt werden. Alle waffenfähigen Männer sind von den Feldern aufs Kriegsfeld gezogen. Das gelagerte Getreide kann nicht exportiert werden. Der Aggressor droht der Welt mit noch mehr Hunger und Tod. So werden Pflugscharen zu Schwertern gemacht. Was für eine Perversion!

Dem allen zum Trotz bin ich immer noch nicht bereit, von meinen Glaubenssätzen abzuweichen. „Wer zum Schwert greift, kommt dadurch um“, heißt es schon in der Bibel. Genau das passiert in diesen Tagen sowohl mit den ahnungslosen, blutjungen russischen Soldaten aus den ärmeren russischen Provinzen genauso wie mit den mit dem Mut der Verzweiflung um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Ukrainern. „How many times must a cannonball fly?“ Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind? 

Ich bin überzeugt, dass es andere Mittel geben muss, den Konflikt beizulegen. Hat sich nicht Mahatma Gandhi ans Spinnrad gesetzt, um den britischen Kolonialherren die Freiheit abzutrotzen? Dieser Friedensmensch bleibt mein Idol. Also verzichten wir auf billiges Gas und Erdöl aus Russland und drehen wir dem Kriegsherrn mit einem Einfuhrstop den Geldhahn zu! Das kann lange dauern, ihn auf diese Art zu Friedensverhandlungen zu bewegen. Wir müssen einen längeren Atem haben und bereit, auf einen Teil unseres materiellen Wohlstands zu verzichten. Aber ich glaube fest, dass wir Wertvolleres zu gewinnen haben: dauerhaften Frieden!

MÄRZ 2022

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