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WAHLVERWANDTSCHAFTEN 

© Foto Regina Seidel



Zu zweit, zu sechst, zu fünft, zu dritt, allein – im Laufe meines Lebens habe ich einige Wohnformen ausprobiert. Ich habe das Zusammenleben als Paar, als Familie oder in einer Wohngemeinschaft gelebt, um schlussendlich festzustellen, dass die mir gemäße Form des Wohnens das Alleinleben ist. Auch nach vielen Jahren genieße ich es, meinen intimen Lebensbereich mit niemandem außer meiner Katze und gelegentlichem Besuch teilen zu müssen. Dennoch war mir lange schon klar, dass ich mich rechtzeitig nach einer Wohnform im Alter umsehen muss, die mir einerseits den erforderlichen Frei-Raum lässt, mich andererseits aber vor Einsamkeit im Alter schützt. Rechtzeitig bedeutete für mich immer, spätestens mit Eintritt ins Rentenalter.

Von Berufs wegen habe ich sehr viele Menschen kennengelernt, die es versäumt hatten, sich beizeiten um die Frage zu kümmern, wie sie im Alter wohnen wollen. Das heißt, ich stellte bei den meisten eine Art Verdrängungsmechanismus fest, der dieses Thema gar nicht erst aufkommen ließ. Man wohnte schon seit Jahrzehnten in derselben Wohnung, vielleicht sogar noch mit dem Partner/der Partnerin und wiegte sich in der scheinbaren Sicherheit, dass das bis zum Ende so bleiben würde. Genährt wird diese Vorstellung durch die geradezu magische Beschwörungsformel der Politik, dass alle doch bis ins hohe Alter am liebsten in ihrer eigenen Wohnung leben wollen. Anstatt dafür zu sorgen, Wohnmöglichkeiten für ältere Menschen zu schaffen, die beides ermöglichen: Selbstständiges Leben bei gleichzeitiger Einbindung in soziale Gemeinschaft, wird lieber die vordergründig kostengünstigere Variante gepredigt. Sicher, es gibt viele sogenannte Seniorenheime, die aber aufgrund dieser Suggestionen zu Alten- und Pflegeheimen „verkommen“ sind, in die man erst geht, wenn gar nichts mehr geht. Was zur Folge hat, dass die Menschen dort aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit unter Umständen genauso einsam sind wie in ihrer alten Wohnung, weil sie nicht mehr in der Lage sind, vor die Tür ihres Zimmers zu treten, um andere Menschen zu treffen. Mal abgesehen davon, dass nach meiner Beobachtung der Wunsch, neue Kontakte zu knüpfen und sich auf fremde Menschen einzulassen, bei Vielen ab einem bestimmten Alter rapide abnimmt. Irgendwann ist der Zeitpunkt, an dem man noch frohgemut hinausgeht und bereit für Neues ist, beziehungsweise überhaupt entscheiden kann, was und wie, unwiderruflich dahin. Bei dem hohen Lebensalter, das viele von uns erreichen werden, sollten wir uns da nichts vormachen.

Noch bevor die Rente in greifbare Nähe rückte, begann ich also, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen und mir verschiedene Möglichkeiten anzuschauen. Irgendwann kristallisierte sich für mich ein Lebensmodell heraus, das mir genau das Richtige für mich schien: Eine eigene Wohnung bei gleichzeitiger Verbindlichkeit der gegenseitigen Unterstützung und Nähe. In vielen alternativen Wohnprojekten wird dieses Prinzip angestrebt und manchmal sogar vorbildlich umgesetzt. Bis es soweit ist, braucht es dafür aber oft einen langen Atem, und der Weg dahin ist gepflastert mit Konflikten und Auseinandersetzungen. Wie immer, wenn viele unterschiedliche Menschen und Vorstellungen aufeinandertreffen.

Warum das Ganze nicht ein wenig abkürzen und das Projekt kleiner gestalten? Mit Menschen, die man gut kennt und vor allem mag und die sich das Gleiche wünschen wie man selbst. Warum also nicht ein bereits vorhandenes Mietshaus sozusagen „okkupieren“, das heißt, mit Menschen belegen, die sich umeinander kümmern wollen?

Für mich ergab diese Möglichkeit glücklicherweise fast von selbst. Zwei langjährige Freundinnen praktizierten dieses Modell bereits und ich sollte als Dritte im Bunde dazukommen, sobald die nächste Wohnung frei würde. So etwas kann natürlich ein Weilchen dauern, aber in der Zwischenzeit mistete ich schon einmal aus, warf Ballast ab und übte mich in Geduld. Bis es endlich soweit war, pflegten wir weiterhin unsere Freundschaft, besuchten uns und fuhren gemeinsam in Urlaub, so wie wir es bisher getan hatten. Natürlich gab es auch Momente, in denen ich ein bisschen Angst vor meiner eigenen Courage bekam, immerhin bedeutete diese Entscheidung für mich, dass ich dann meine Zelte in NRW abbrechen und nach Niedersachsen ziehen musste. Kein einfacher Schritt, obwohl es sich um meine alte Heimat handelte, aber für das, was ich bekommen würde, war der Preis in meinen Augen letztendlich nicht zu hoch. Wir kannten uns lange genug, um zu wissen, dass wir uns aufeinander verlassen können und füreinander da sein werden. Und wir waren uns einig darüber, dass wir uns nicht pflegen werden, sollte das erforderlich werden – dafür gibt es Profis -, aber wir werden am Bett sitzen, Händchen halten und uns mit Anekdoten aus unserer langen gemeinsamen Zeit trösten. 

Nach fast genau einem Jahr war es dann soweit. Wir verbrachten gerade wieder ein paar Tage gemeinsam an der Nordsee, als uns die Nachricht erreichte, dass eine Wohnung für mich frei würde. Unsere Vermieterin hatte sogar schon einen Besichtigungstermin vereinbart, sodass ich mir mein neues Zuhause auf dem Rückweg aus dem Urlaub anschauen konnte. So gab es bei diesem Zwischenstopp nicht nur einen Geburtstag, sondern auch die baldige Erfüllung unseres Vorhabens zu feiern. Alles passte perfekt: Kündigungsfristen konnten eingehalten, der Umzug mit genügend Zeit organisiert und Abschiede ohne Hast gestaltet werden. Manchmal meint es das Schicksal wirklich gut mit uns.

Inzwischen können wir auf einige Monate Zusammenleben zurückblicken, die uns darin bestätigt haben, dass unser Plan aufgeht. Gerade oder besonders in Zeiten wie diesen. Corona hat meine Möglichkeiten, mir meine neue alte Heimat zu erschließen, neue Kontakte zu knüpfen und aktiv an Veranstaltungen teilzunehmen arg eingeschränkt, doch zu wissen und zu erleben, dass in unmittelbarer Nähe Menschen sind, mit denen ich auch ganz banalen Alltag teilen kann, macht es ein bisschen weniger schlimm. Egal, ob es gemeinsame Unternehmungen oder Fernsehabende sind, ein kurzes Pläuschchen von Balkon zu Balkon, gemeinsames Unkrautzupfen im Garten oder ein Abendessen, wir machen es uns trotz schwieriger Zeiten so schön wie möglich.

Apropos schön. Wenn alles schön ist, heißt das noch lange nicht, dass auch alles gut ist. Ich bin in meinem Leben schon des Öfteren umgezogen, aber noch nie ist mir ein Orts- und Wohnungswechsel so bewusst als Prozess erschienen wie diesmal. Und dass dieser Prozess uns einiges an Anpassungsfähigkeit und Geduld abverlangt. Mag sein, dass es am Alter liegt, aber ich vermute eher, dass ich bei vergangenen Umzügen aus unterschiedlichsten Gründen viel zu beschäftigt und abgelenkt war, um das zu bemerken. 

Wenn ein Wunsch in Erfüllung geht, meint man ja oft, dass die Freude darüber ständig und immerzu spürbar sein müsste. Wie passen da plötzlich Zweifel, Missmut oder Unzufriedenheit dazu? Manchmal wurde ich von solchen Gefühlen kalt erwischt, vor allem, wenn sie dazu führten, sogar meine Entscheidung infrage zu stellen. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass Körper, Geist und Seele unterschiedlich lange Zeit brauchen, um sich an die neuen Umstände zu gewöhnen. Das Körpergedächtnis zum Beispiel ist auch nach Wochen und Monaten häufig noch irritiert über die neue Anordnung der Möbel oder die Größe der Wohnung. Während ich mich in meiner alten Wohnung in Düsseldorf auch im Dunkeln sicher bewegen konnte, fühlte ich mich in der neuen unsicher, wenn ich kaum etwas sehen konnte. Mein Kopf registrierte meist erst in allerletzter Sekunde, dass es neuerdings eine Dunstabzugshaube über dem Herd gibt oder Hängeschränke in der Küche, deren offene Klappen nicht ganz ungefährlich sind. 

In den ersten Wochen habe ich mich oft wie auf Besuch gefühlt und kam mir ziemlich verloren vor in dieser zwanzig Quadratmeter größeren Wohnung mit ihren hohen Decken. Ich sehnte mich nach der Geborgenheit, die ich in meiner jahrelang vertrauten Wohnung in Düsseldorf verspürt hatte. Und die Vertrautheit der Umgebung, wenn ich vor die Tür trat. In Düsseldorf wusste ich immer, wohin ich gehen konnte, wenn es mich nach draußen zog, ich wusste, welche Gegend welche Wirkung auf mich hatte. Das muss ich hier erst einmal herausfinden.

Natürlich drängte sich auch schnell die Tatsache ins Bewusstsein, dass es erst einmal außer meinen Freundinnen niemanden gab, mit dem ich mich spontan verabreden konnte; dass ich meine Kinder und Enkelkinder nicht eben mal mit der S-Bahn besuchen kann. Meine Versuche, neue Kontakte zu knüpfen, sind nicht immer von Erfolg gekrönt, schließlich steht nicht an jeder Ecke jemand, mit der oder dem man sich auf Anhieb gut versteht und Freundschaft schließen möchte. Eine Erfahrung, die ich natürlich kenne, aber sie hatte plötzlich ein anderes Gewicht.

Vermutlich wird es noch einige Zeit dauern, bis ich wirklich ganz angekommen bin und mich hier zu Hause fühle. Bis dahin hilft nur Geduld, Gelassenheit und das Wissen, dass alles seine Zeit braucht.

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