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WEIßT DU NOCH?

Meine Mutter ist neunzig geworden. Zum Geburtstag hatte ich eine Idee: Alle, die sie gernhaben, sollten ihr einen kleinen Film oder ein Selfie mit dem Handy aufnehmen und Glückwünsche in die Kamera sprechen. Es kamen rund zwanzig Filme zusammen, aus Spanien, Polen, Münster – und aus B., von einem ihrer ältesten Freunde: H.

Dieser Film ist besonders schön und rührend: Man sieht einen alten Mann am Schreibtisch neben einer brennenden Kerze sitzen. Er sagt: „Weißt du noch, als wir aus dem Tagebuch für Adam und Eva lasen?“ Nach einem Schnitt sieht man ihn in der Zimmerecke stehen und er fragt: „Weißt du noch, als wir Theater spielten?“, dann dreht er sich im Kreis und fragt: „Weißt du noch, als wir zusammen tanzten?“ 

Man sieht den fast 90jährigen Mann und seine langsamen Bewegungen, aber ich sehe vor dem inneren Auge auch einen jungen Mann mit meiner jungen Mutter tanzen. 

Sie hat sich sehr über alle Filme und besonders über diesen gefreut. Ich habe einen Dankeschönfilm mit ihr gemacht und allen gesendet – auch ihm. Doch dann kam einen Monat später die überraschende traurige Nachricht: H. ist gestorben. 

Nun ist es ja nicht ungewöhnlich mit 89 zu sterben, aber es war doch für meine hochbetagte Mutter ein Schlag. Und auch für mich. Denn ich hatte vorher immer nur von H. aus ihren Erzählungen gehört. Als ich dann mit ihm in brieflichen Kontakt wegen des Films kam, war er sehr liebenswürdig zu mir. Ich hätte ihn gern besucht, um mit ihm und seinem Freund darüber sprechen, wie es ist, als 89jähriger Mann in Deutschland schwul zu sein. Wie sein Lebensweg war. Wie sein Coming Out war. Wie seine vierziger, fünfziger und so weiter Jahre waren, in einem Land, in dem die schwulen Männer aus dem KZ kamen und gleich wieder ins Gefängnis wanderten. In einem Land, in dem es eine Spur aus Schmerz, Scham, Isolation, gesellschaftlicher Verachtung, Stigmatisierung und Kriminalisierung gab und gibt. 

Der Paragraph 175 hat in der Bundesrepublik bis 1994 gewirkt. 2002 hob der Bundestag die während der Zeit des Nationalsozialismus ergangenen Urteile auf, aber erst am 22. Juli 2017 wurden auch alle Urteile nach 1945 aufgehoben. Gut für die Wenigen, die diese Urteile überlebt haben und jetzt rehabilitiert sind. Für alle anderen: zu spät.

Ich hätte ihn gefragt: Wie hast du dein Glück gefunden? Deinen kreativen Beruf, deinen Lebenspartner, deine Freundinnen und Freunde? Was hat dir Zuversicht gegeben, was hat dich stark gemacht? Denn in dem Film wirkt H. mit seinem hohen Alter stark und fröhlich.

Wirkte. Nun kann ich ihn nicht mehr fragen, aber seinen Freund. Das werde ich vielleicht tun. Und an H. werde ich denken.  


THOMAS AVENHAUS

© sophoartlive.de

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